„Ich wollte ein Tabuthema aufs Tapet bringen“

Die Autorin Annette Wirthlin und ich sahen uns an einem der letzten sonnigen September-Tage im Zürcher Seefeld. Aus 5 Minuten wurde, wie schon so oft, ein sehr spannendes Gespräch von 30 Minuten.

Annette Wirthlin studierte Anglistik, Germanistik und Psychologie an der Uni Zürich. Sie lebt in der Stadt Zug und arbeitet als Redaktorin im Ressort Gesundheit bei der „Schweizer Familie“. Davor befasste sie sich bei der „Zentralschweiz am Sonntag“ neben allgemeinen Gesellschaftsthemen auch immer wieder mit Fragen der Psychologie.

Frau Wirthlin, was war Ihre Motivation, ein Buch zum Thema Kinderwunsch zu schreiben?

Mir war aufgefallen, wie oft Frauen in meinem Umfeld in den Clinch kommen mit ihrer tickenden biologischen Uhr. Immer wieder wurden mir Geschichten von unglaublichen Schicksalen zugetragen. Speziell bei einer dieser Geschichten dachte ich mir: Das müsste man aufschreiben. Häufig erzählten mir betroffene Frauen, wie oft ihnen von der Gesellschaft Unverständnis entgegengebracht wird. Und wie oft Menschen unsensible Bemerkungen zu ihrem unerfüllten Kinderwunsch fallen liessen. Wenn Frauen, die auf die 40 zugehen, zugeben, dass sie noch ein Kind möchten und dafür vielleicht sogar unkonventionelle Wege beschreiten wollen, werden sie nicht selten belächelt oder als egoistisch bezeichnet. Andauernd müssen sie sich rechtfertigen, und sie ziehen es aus diesem Grund vor, zu schweigen. Mein Ziel war es, mit diesem Buch ein Tabuthema aufs Tapet zu bringen. Mit den ehrlichen, ungeschönten Geschichten dieser Frauen wollte ich zeigen, was wirklich hinter dem sehnlichen Wunsch nach einem Kind und einer Familie steckt.

Welches ist die grösste Herausforderung, mit der Kinderwunsch-Paare heutzutage konfrontiert sind?

Ich habe mich weniger mit den Empfängnisproblemen von Kinderwunsch-Paaren befasst als mit der Frage, weshalb in der heutigen Gesellschaft so viele Frauen die Verwirklichung ihres Kinderwunsches fast oder ganz verpassen. Es ist nämlich eine Tatsache, dass Frauen immer später in ihrem Leben Mutter werden. Dies hat hauptsächlich zwei Gründe: Der eine ist, dass sich der Arbeitsmarkt in den letzten 30 Jahren stark verändert hat. Es gibt heute viel mehr Frauen mit einer universitären Ausbildung, und die wollen sie natürlich beruflich nutzen. 80 Prozent der Frauen sind heutzutage berufstätig. Was sich trotz dieser Entwicklung noch nicht genügend angepasst hat, sind Teilzeit-Modelle für Väter, Krippenangebote usw. Die Hauptlast der Erziehungsarbeit lastet immer noch auf den Frauen. Sie müssen Karriere und Kinder immer irgendwie aneinander vorbeibringen. Ihr ohnehin engeres, biologisch vorgegebenes Zeitfenster wird somit gleich nochmals enger. Der andere Grund ist, dass sich Beziehungsstrukturen und die Vorstellungen von Familie über die letzten Jahre stark gewandelt haben. Früher hat man – salopp gesagt – den ersten Schulschatz geheiratet und ist dann schwanger geworden. Heute können wir dank moderner Verhütungsmethoden problemlos etwas damit zuwarten, und wir spuren selten gleich beim ersten Partner auf ein traditionelles Familienleben ein. Es gibt auch genügend attraktive Alternativen. Man kann reisen, Karriere machen, man hat das Geld, sich alles Mögliche zu leisten. Wir haben stärker als je zuvor die Vorstellung von der perfekten Beziehung, die als Basis für ein Kind gegeben sein muss. Man wartet lieber, bis der wirklich perfekte Partner da ist. Und plötzlich wird es eng, wenn etwa mit 37 Jahren die Beziehung auseinander bricht …

Ich bin überzeugt, dass ganz viele keinen Fehler machen. Klick um zu Tweeten

Welches ist der häufigste Fehler, den Kinderwunsch-Paare machen? Wie könnte man diesem entgegen wirken?

Ich bin überzeugt, dass ganz viele keinen Fehler machen. Überhaupt finde ich es falsch, im Zusammenhang mit dem unerfüllten Kinderwunsch von Fehlern oder Schuld zu reden. Die Betroffenen machen sich ohnehin schon genug Selbstvorwürfe. Mit Blick auf die biologische Uhr könnte der einzige Tipp vielleicht lauten, dass wenn man einen guten Partner gefunden hat und der Wunsch nach einem Kind grundsätzlich da ist, dass man ihn dann zugunsten des grossen Freiheitsdrangs nicht ewig auf die lange Bank schiebt. Denn auch die moderne Fortpflanzungsmedizin ist ab einem gewissen Alter kein Garant mehr für das ersehnte Kind.

Welchen Geheimtipp geben Sie Paaren mit auf den Kinderwunsch-Weg?

Nicht allzu sehr darauf zu hören, was andere sagen. Jedes Paar und jeder einzelne Mensch mit Kinderwunsch muss selbst entscheiden, wie wichtig ihm dieses Thema ist und was er bereit ist, dafür auf sich zu nehmen.

Wenn Sie mit dem Finger schnippen könnten und ein Faktor im Bereich des unerfüllten Kinderwunsches ändern könnten: Was wäre es?

Ich würde dafür sorgen, dass jene Menschen häufiger Mutter oder Vater werden können, die sich diese verantwortungsvolle Aufgabe wirklich sehnlichst wünschen. Wenn man Interviews mit solchen Menschen geführt hat und sieht, was hinter einem unerfüllten Kinderwunsch steckt, dann stimmt es einen mehr als nur nachdenklich, wenn man von anderen Paaren im besten Alter und in den besten finanziellen Verhältnissen hört, die ihr Kind abtreiben möchten, weil es ihnen „nicht gerade ins Leben passt“. Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch müssen sich manchmal Sätze anhören wie: „Dieses Kind will noch nicht zu Euch kommen. Es ist noch nicht bereit.“ Meiner Meinung nach ist das Quatsch. Denn wenn das so wäre, wieso kriegen dann auch drogensüchtigen Frauen oder gewalttätige Männer Nachwuchs? Und wieso sollte sich dann irgend ein Kind dazu entscheiden, mitten in einer Hungersnot oder im Krieg zur Welt zu kommen?

Auf was in Ihrem Leben sind Sie stolz?

Sie fragen Sachen! Vielleicht wäre ich stolz, wenn ich sagen könnte, dass sich mein Buch 5000-mal verkauft hat und jetzt in drei Sprachen übersetzt wird? (lacht)

Was ist Ihr ganz persönlicher grösster Erfolg als Autorin?

Sowohl als Buchautorin als auch als Journalistin ist es immer ein schönes Kompliment, wenn jemand sagt, ein Text hätte sie oder ihn berührt. Kürzlich hat mir eine alleinstehende Frau geschrieben, sie habe mein Buch in den Ferien gelesen und dadurch neuen Mut und Hoffnung gefasst für die Umsetzung ihres Kinderwunsches. Das sind Momente, die Freude machen.

Was war der beste Ratschlag, den Sie je bekommen haben?

Vielleicht der, nicht aufzuhören, sich für seine Träume einzusetzen. Aber im Allgemeinen mag ich Ratschläge nicht besonders. Ich mag eher Leute, die einem aufmerksam zuhören und einem dabei helfen, eine Auslegeordnung zu machen, so dass man selbst zur richtigen Lösung kommt.

Welches Buch hat Ihr Leben verändert und weshalb?

Keines. Mein Leben wird aber laufend durch Bücher bereichert, denn ich lese viel und sehr gerne – hauptsächlich Romane. Wenn ich trotzdem ein Buch nennen soll, dann wohl mein eigenes. Es hat mein Leben allein dadurch verändert, dass es während des Schreibens und Recherchierens drei Jahre lang meinen Tagesablauf mitgeprägt hat. Ich habe viel gelernt, neue Einsichten erhalten und durch die Interviews einige spannende Persönlichkeiten kennen gelernt. Ohne dieses Buch hätte ich das alles nicht erlebt.

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